Sind Mannschaften nach Platzverweisen stärker?
- Marco Heibel
Wie oft hat es das schon gegeben im Fußball: Die Heimmannschaft führt und kontrolliert das Spiel scheinbar nach Belieben. Als sich der Gegner nach einem Platzverweis auch noch selbst dezimiert, scheint die Partie endgültig gelaufen. Doch plötzlich geht beim führenden Team überhaupt nichts mehr, während der scheinbar hoffnungslos unterlegene Gegner plötzlich befreit aufspielt und das Spiel noch dreht.
Studie: Beflügelt ein Platzverweis?
Ein solches Szenario lässt sich vermutlich an jedem Wochenende irgendwo in Deutschland beobachten, ob in der Kreisklasse oder in der Bundesliga. Zehn Spieler sind manchmal besser als elf. Das sagt – mit Einschränkungen – auch ein Forscherteam der Universität Tübingen, das 3.060 Bundesligaspiele aus den Jahren 1999 bis 2009 analysiert hat, in denen es 672 Platzverweise gab.
Die Tübinger Wissenschaftler nahmen nicht nur die Ergebnisse der Spiele als Referenz, sondern berücksichtigten weitere Faktoren, wie etwa die Stärke der beiden Mannschaften oder ihre Heim- und Auswärtsbilanz. Schließlich muss ein Sieg des Schlusslichtes in Unterzahl beim Spitzenreiter nach Platzverweis anders gewichtet werden als der eines Top 5-Teams gegen eine Mannschaft aus der unteren Tabellenhälfte.
Gastmannschaft profitiert, Heimmannschaft tut sich schwerer
Die Forscher kamen zu folgenden Erkenntnissen:
- Vor allem Gästeteams profitieren von einem Platzverweis. Allerdings nur, wenn sie nicht länger als 20 Minuten in Unterzahl spielen müssen.
- Heimmannschaften werden dagegen von einer Unterzahl eher gelähmt – und zwar unabhängig vom Spielstand. Im Durchschnitt erzielen Heimmannschaften nach einem Platzverweis 0,5 Tore weniger als Auswärtsmannschaften in Unterzahl.
Platzverweis: Motivation oder Blockade
Was bewirkt also ein Platzverweis bei den einzelnen Spielern? Der Underdog-Faktor spielt bei der Mannschaft in Unterzahl die größte Rolle. Wird ein Mitspieler herausgestellt, führt dies objektiv betrachtet zu einer Schwächung des Teams. Die verbliebenen Spieler haben nun weniger zu verlieren und gehen stattdessen motivierter zu Werke. Auf diese Weise können sie den Verlust für einen gewissen Zeitraum auffangen, wenn nicht sogar durch den erhöhten Einsatz und eine gewisse Unbekümmertheit überkompensieren. In einem solchen Fall ist ein Platzverweis das berühmte „Zeichen“ bzw. der „Weckruf“, den eine Mannschaft braucht. Fällt dann allerdings kein Tor oder gehen die Kräfte aus, verpufft dieser Effekt wieder.
Die Mannschaft in Überzahl ist psychologisch genau in der gegenteiligen Situation. Eigentlich spricht nun alles für sie: Auf dem Papier sollte es ihr leichter fallen, Überzahlsituationen zu schaffen. Außerdem wird der dezimierte Gegner durch die vermehrte Laufarbeit schneller müde. Doch gerade dieses vermeintlich leichte Spiel macht es Mannschaften in Überzahl psychologisch schwer: Die Erwartungshaltung ist nun die, dass man zumindest kein Gegentor mehr kassieren darf bzw. seine numerische Überlegenheit in weitere Treffer ummünzen muss. Das kann blockieren. Zugleich kann ein Spannungsabfall eintreten: Lauf- und Einsatzbereitschaft können nachlassen, die Verantwortung wird hin- und hergeschoben.
Warum Gästeteams mit Platzverweisen besser zurecht kommen
Doch warum kommen Gästeteams mit einer Unterzahlsituation unabhängig vom Spielstand besser zurecht als gastgebende Mannschaften? Die Tübinger Wissenschaftler erklären sich das so: Auswärtsmannschaften gehen üblicherweise mit einer defensiveren Grundeinstellung ins Spiel als der Gastgeber, weswegen ihnen die psychologische Umstellung nach einer Dezimierung leichter falle: Führen sie, machen sie eben hinten noch mehr dicht; liegen sie hinten, können sie bedenkenlos alles auf die Offensive setzen. Schließlich spielt es nun auch keine Rolle mehr, ob man noch ein Gegentor kassiert oder nicht. Man kann nur noch gewinnen.