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Vor der EM: So läuft eine Turnier-Vorbereitung

Die Vorbereitung auf die Europameisterschaft in Frankreich läuft bereits. Aber wie viel kann man im Athletik-Bereich so kurz vor dem Turnier noch beeinflussen?
Die DFB-Elf bereitet sich in Ascona auf die Europameisterschaft in Frankreich vor. Drei Wochen stehen dem Bundestrainer insgesamt zur Verfügung. Manche Spieler seines vorläufigen Aufgebots sind noch nicht wieder fit (Schweinsteiger, Götze), andere stoßen erst später zum Team (Podolski, Kroos), wieder andere sind erst kürzlich von einer Verletzung zurückgekommen (Boateng, Draxler, Höwedes). Wie kriegt man in so kurzer Zeit die Spieler fit? Wir haben bei Sportwissenschaftler und Arzt Dr. Dr. Homayun Gharavi nachgefragt. Der betreut schließlich selbst zahlreiche Olympiasportler und gehörte 2014 zum Betreuerstab der US-Nationalmannschaft, als die US-Boys für die anstehende Weltmeisterschaft in Form gebracht werden mussten.

netzathleten.de: Homayun, wie bekommt man eine Mannschaft in der kurzen Zeit einer Vorbereitung fit für ein Turnier?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Das ist natürlich pauschal schwer zu beantworten. Es spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Es geht nicht nur um Fitness. Der Cheftrainer muss beispielsweise prüfen, wer für welche Aufgabe geeignet ist. Es geht um das Zusammenspiel im Spiel selbst, welche Spieler zueinanderpassen und wie es um den Teamspirit bestellt ist. Die Spieler kommen ja aus der Saison zur Nationalmannschaft. Das Fitnesstraining selbst konzentriert sich eher darauf, Verletzungen oder Einschränkungen gut in den Griff zu bekommen, die die Spieler mitbringen. Nur so können die Spieler das Training trotzdem absolvieren; auf dem Platz wie im Kraftraum.

netzathleten.de: Heißt das, auf die Fitness der Mannschaft hat man dann gar nicht mehr so viel Einfluss, man kann eigentlich nur an kleinen Stellschrauben drehen?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Ja. Ich denke, das trifft es ganz gut. Es kommen ja Spieler zur Nationalmannschaft, die in der Bundesliga, im Pokal oder der Champions League bereits Höchstleistung gebracht haben. Im Trainingslager wird es in erster Linie darum gehen, die Wehwehchen und Kratzer der Saison zu behandeln. Das können Sehnenreizungen sein, Muskelverletzungen oder Rückenprobleme. Genau wie akute Verletzungen. Diese werden so gut wie möglich rehabilitiert, etwas salopp gesagt: Man schaut, dass man den Körper entspannt bekommt. Die Gruppe um Verstegen – die ja bei der deutschen Nationalmannschaft arbeitet – ist extrem gut darin, wenn es um strukturiertes Aufwärmen geht. Inzwischen ist das ein Standardprogramm, das da abläuft. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass hier und da an der Technik gearbeitet wird, an der Lauftechnik, der Abbremstechnik. Da ist dann auch jeder Spieler in der Pflicht, die Korrekturen umzusetzen und daran zu arbeiten. Eine eigene Gruppe sind Spieler, die gerade von einer Verletzung zurückkommen. Mit denen kann man nochmal individueller arbeiten, um sie nach vorne zu bringen. Bei allen, die fit durch die Saison gekommen sind, heißt es erstmal: ausruhen, die Bundesliga-Routine abstreifen und die Fitness aufrechterhalten.

netzathleten.de: Worauf liegt neben Fitness und Regeneration der Fokus, wenn die Mannschaft zusammenkommt?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Natürlich steht das Fußballtraining selbst als extrem wichtiger Punkt auf der Tagesordnung. Es geht aber nicht nur um das fußballerische. Die Kommunikation spielt eine bedeutende Rolle. Man muss Spieler aus verschiedenen Mannschaften zu einer gemeinsamen Sprache führen. Die Spieler, die neu in der Nationalmannschaft sind, müssen integriert werden – die Sprache lernen. Es geht darum, einen Teamspirit aufzubauen. Dabei sollte man analytisch vorgehen und auch das Verhalten abseits des Platzes beachten. Außerdem müssen die Spieler aber natürlich auch Spielzüge und Standards einstudieren, sodass sie routiniert ablaufen, auch mit Störfaktoren wie Gegenspielern.

netzathleten.de: Wie viel Zeit bleibt neben dem klassischen Fußballtraining für individuelle Einheiten?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Bei professionellen Mannschaften findet eigentlich ständig auch individuelles Training statt. Natürlich nimmt das Mannschaftstraining die meiste Zeit in Anspruch, auch was die Konditionierung angeht. Im Tagesablauf gibt es aber in der Regel immer noch ein kleines Fenster, in dem individuelle Einheiten absolviert werden können. Normalerweise vor dem Training oder in der trainingsfreien Tageshälfte. Wie genau das aussieht, hängt immer davon ab, was der Spieler benötigt. Es herrscht eine sehr intime Atmosphäre und gute 1:1-Betreuung, wenngleich eine solche Sitzung manchmal auch nur 20 Minuten dauert. Insgesamt bekommen die Spieler aber die Zuwendung, die sie brauchen, um auf diesem Niveau Fußball zu spielen.   

netzathleten.de: Bei der EM in diesem Jahr wird erstmals auch ein Achtelfinale gespielt. Bis zum Titelgewinn muss eine Mannschaft also sieben Spiele in vier Wochen absolvieren. Nun wird immer wieder über die starke Belastung der Spieler diskutiert. Wie schätzt du die Belastung ein?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Ich denke, dass auch sieben Spiele absolut machbar sind. Viele Spieler haben in ihren Vereinen immer englische Woche, in denen die Spiele teilweise noch enger getaktet sind. Ob diese Einschätzung zutrifft, wird erst das Turnier zeigen. Aber: Rein von der Physis her hat jede Mannschaft die gleiche Anforderung zu bestehen. Und den Fitnesszustand würde ich bei den Top-Nationen als gleichwertig einschätzen. Wichtig ist daher auch die mentale Komponente. Bei einem EM-Spiel ist der Druck in der Regel größer als bei einem Vereinsspiel. Das hängt auch damit zusammen, dass man eine ganze Nation vertritt. Entscheidend sind daher auch der Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft und die Kommunikation mit dem Betreuerstab. Man muss locker, mit Spaß und Freude an die Sache rangehen und dennoch total für den Sieg brennen.

netzathleten.de: Als Außenstehender – Wie siehst du die deutsche Mannschaft in diesen Punkten?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Ich schätze, dass die DFB-Elf hier gut aufgestellt ist. In der Psychologie gibt es den Begriff „Absturzangst“, der die Angst vor einem Scheitern beschreibt. Bei den Deutschen denke ich aber nicht, dass man das fürchten muss. Sie sind Weltmeister, sie können mit stolzer Brust antreten. Vielmehr denke ich, dass ein Lass-es-uns-noch-einmal-machen-Gefühl vorherrschen wird. Dadurch hat man eine ganz andere Haltung als etwa Mannschaften, die früh bei der WM ausgeschieden sind, zum Beispiel die Spanier. Entweder gehen diese Teams mit ordentlich Wut im Bauch ins Turnier oder aber mit den Gedanken, dass es dieses Mal hoffentlich besser läuft. Das beeinflusst dann auch wieder das Innenleben der Mannschaft, man ist vielleicht nervöser, angespannter, dünnhäutiger.

netzathleten.de: Und wie gestaltet sich die athletische Betreuung während des Turniers?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Hier liegt der Fokus in der Regel ganz auf der Regeneration zwischen den Spielen. Regeneration in dem Sinn, dass man die Müdigkeit aus den Beinen bekommt und Regeneration in dem Sinn, dass man kleinere Blessuren in den Griff kriegt. Zudem muss man großzügig darüber entscheiden, ob man einen Spieler wieder auf den Platz bekommt, dabei aber strategisch an die Sache rangehen. Setzte ich alles daran, einen Spieler beim nächsten Spiel wieder auf den Rasen zu schicken? Oder ist es sinnvoller, ihn ein Spiel pausieren zu lassen, weil ich davon überzeugt bin, das die Mannschaft auf ohne diesen Spieler weiterkommt? Genau solche Überlegungen sind es, die das Managen und Führen eines Teams durch ein solches Turnier extrem interessant machen. Und es funktioniert nur, wenn sich der Trainer auf die medizinischen Betreuer und die Konditionstrainer verlassen kann.

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