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Kommentar: 8.Mai 1945 – Befreiung des Vereinssports?
- Redaktion
In diesen Tagen wird weltweit der vollständigen Niederlage der faschistischen Gewaltherrschaft vor 70 Jahren gedacht. Eine Gedenkstunde auch für den deutschen Sport und seiner Befreiung?
Von: Prof. Hans-Jürgen Schulke
Begonnen hat die NS-Herrschaft 1933 – keine 15 Jahre haben die Turn- und Sportvereine in einer bis dahin nicht erprobten, trotz vielfältiger Widerstände und Kämpfe einigermaßen funktionierenden Demokratie entsprechend ihrer historischen Wurzeln auf dem Turnplatz in der Berliner Hasenheide leben können: Freiheitlich und selbstbestimmt in einem demokratischen Nationalstaat. Rasant wächst die Turn- und Sportbewegung an Vereinen und Mitgliedern, die Zahl sporttreibender Frauen und Arbeiter nimmt rasch zu, neue Sportformen werden erfunden, Sportwettkämpfe erreichen große Popularität, die Sportberichterstattung gewinnt Bedeutung. Allerdings: Organisatorisch bildet der frei organisierte Sport keine Einheit, ist politisch, konfessionell und sozial zersplittert.
Die Machtergreifung der NSDAP bedeutet für die sportliche Vereinsbewegung den radikalsten Einschnitt ihrer Geschichte. Vereine sind in ihrer demokratischen Verfassung, ihrer Verbandszugehörigkeit, ihrer Selbstorganisation, ihren Zielen, ihrer Meinungsfreiheit grundlegend infrage gestellt. Das erfahren zuerst die Arbeiterturn- und Sportvereine, die umgehend verboten werden – Vorstände werden verhaftet, viele misshandelt, Sportstätten und Geräte beschlagnahmt oder zerstört, wichtige Dokumente vernichtet. Das Verbot gilt auch für viele konfessionell geprägte und einige Werksportvereine, später die ghettoisierten jüdischen Vereine .
Dem totalitären Anspruch eines gewalttätigen Regimes sind die bürgerlichen Turnvereine wie auch die international orientierten Sportvereine unvorbereitet ausgesetzt. Ja sie scheinen es zunächst nicht einmal zu merken – am Tag der Machtergreifung finden wie geplant Pferderennen statt, am Tag der letzten Reichswahl im März besuchen zigtausende Fußballspiele.
Außer von Teilen der Arbeiterturn- und Sportbewegung erfolgt kein Widerstand aus den Verbänden, vielfach sind führende Funktionäre aktive Vorhut oder willige Unterstützer der neuen Machthaber. Die Deutsche Turnerschaft begrüßt ausdrücklich die NS-Regierung und fordert vorauseilend den Ausschluss jüdischer Mitglieder. Beim Turnfest 1933 vereinnahmt Hitler den volkstümlich-integrierenden Vereinsgründer Jahn für seine rassistische Ideologie – die Mehrzahl der Teilnehmer ist begeistert über die vermeintliche Hochachtung für ihren „Turnvater“, Anerkennung der sportlichen Aktivitäten als „Neuaufbau Großdeutschlands“ und größere finanzielle Förderung des Sports. 1936 „übersehen“ Sportvereine Hitlers Missbrauch Olympias. Manche bürgerlichen Vereine profitieren an der Zerschlagung der Arbeitersportvereine oder der Vertreibung ganzer Bevöl-kerungsgruppen.
Für das Vereinswesen werden vor allem zwei Maßnahmen der neuen Diktatur prägend: Die unmittelbare Gleichschaltung des Sports mit der staatlichen Politik und das Führerprinzip.
Gleichschaltung des Sports heißt schnelle zentralistische Zusammenfassung aller organisatorischen Aktivitäten der Vereine und Verbände im Deutschen (ab 1939 Nationalsozialistischen) Reichsbund für Leibesübungen. Es gibt den allein bestimmenden Reichssportführer, die zahlreichen Verbände werden in 15 Fachämter aufgeteilt. Der Jugendsport wird der Hitlerjugend unterstellt, die Geländeläufe, Gepäckmärsche und Handgranatenweitwurf praktiziert. Die Vereine verlieren die Jugend, die übrigen Mitglieder bleiben meist Sportart und traditioneller Gemeinschaft verbunden. Gleichschaltung zielt zuerst auf Einbindung der Verbandskader auf Reichsebene ab. Und öffentliche Unterstützung der NS-Propaganda durch örtliche Vereine.
Das Führerprinzip – ein nie genau geklärtes politisch-ideologisches Konzept – wird den Vereinen Mitte 1933 aufgezwungen. Jeder Verein muss einen Führer bestätigen, der selbst den Vorstand bestimmt und autonom entscheidet. Der Vorsitzende soll einer NS-Organisation angehören, ebenfalls die Mehrheit des Vorstandes. Vereinzelt gibt es Widerspruch oder Vorsitzende erneut gewählt, mitunter erklärt der Gewählte ausdrücklich, er sei weiter „Kamerad“. Öfter treten Vereinsführer und Wehrsportführer autoritär und ideologisch linientreu auf. Die Partei stellt an die Vereinsführer klare Anforderungen von oben, nicht immer werden sie befolgt. Insgesamt sind Turn- und Sportvereine keine aktiven Stätten des Widerstands. Man versucht sich mit den Bedingungen abzufinden, weiter dem lieb gewordenen Sport nachzugehen und scheinbar „normal“ Geselligkeit zu pflegen.
Im Laufe des Krieges müssen sie registrieren, dass viele Mitglieder fallen (bei einem Hamburger Großverein fast 500), ihre Sportstätten zerstört oder als Notunterkunft für Zwangsarbeiter, Obdachlose oder Verwundete beansprucht sind. Wichtige Erinnerungsstücke gehen verloren. Dennoch ist die Vereinssportbewegung kein unschuldiges Opfer des Nazi-Terrors, changiert zwischen Mittäter und Mitläufer. Und viele Mitglieder fühlen sich im Mai 1945 nicht befreit.
Man darf der Vereinsbewegung in der NS-Zeit zu Recht Verrat an den Idealen der Turnbewegung wie dem Olympischen Internationalismus vorhalten, mindestens historisch schwer nachvollziehbare politische Naivität. Die untereinander zerstrittenen Sportverbände haben anders als die Jahnschen Turner keine gemeinsame Idee von einem freiheitlich-demokratischen Staat. Politik ist Aufgabe der entstandenen Parteien, Vereine verstehen sich zunächst als lokale Vereinigungen zur freien Regelung gemeinsamer Interessen.
Insgesamt bleiben trotz Gleichschaltung und Führerprinzip wichtige Elemente der gelebten Vereinskultur erhalten – gleichberechtigtes Miteinander, brüderliches Engagement für andere und Identifizierung des Vereins als Heimat, Offenheit für neue Anforderungen und Selbstorganisation. Diese Qualitäten sorgen für den erstaunlich schnellen Aufbau der Vereinsstrukturen nach totaler Kapitulation des NS-Regimes, lindern Not und Elend für Heimkehrer und Flüchtlinge, geben Halt für Verzweifelte, bedeuten Kontakte zu ehemaligen Gegnern. Viele Vereine haben einen kleinen Teil zur Wiedergutmachung ihrer und der deutschen Schuld geleistet, mit dem Aufbau des traditionellen Vereinslebens Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens gestärkt. Das gilt bis heute.
Der deutsche Sport hat sich 1945 keineswegs überall befreit gesehen, hat noch viele Jahre Gedankengut und Personal der NS-Zeit verarbeiten müssen. Nach 70 Jahren Demokratie ist sich die Vereinssportbewegung bewusster denn je, wie sehr sie einen freiheitlichen und friedlichen Staat zu ihrer Entwicklung braucht, ihn ihrerseits aktiv mitgestalten muss. Gedenktage wie der 8. Mai sind Anlass dieses Selbstbewusstsein durch selbstkritische Rückschau zu schärfen.
Hinweise: Dieser Kommentar wurde vom DOSB zur Verfügung gestellt. Er spiegelt ausschließlich die Meinung des Autors wider.
Quelle: DOSB Presse
Begonnen hat die NS-Herrschaft 1933 – keine 15 Jahre haben die Turn- und Sportvereine in einer bis dahin nicht erprobten, trotz vielfältiger Widerstände und Kämpfe einigermaßen funktionierenden Demokratie entsprechend ihrer historischen Wurzeln auf dem Turnplatz in der Berliner Hasenheide leben können: Freiheitlich und selbstbestimmt in einem demokratischen Nationalstaat. Rasant wächst die Turn- und Sportbewegung an Vereinen und Mitgliedern, die Zahl sporttreibender Frauen und Arbeiter nimmt rasch zu, neue Sportformen werden erfunden, Sportwettkämpfe erreichen große Popularität, die Sportberichterstattung gewinnt Bedeutung. Allerdings: Organisatorisch bildet der frei organisierte Sport keine Einheit, ist politisch, konfessionell und sozial zersplittert.
Die Machtergreifung der NSDAP bedeutet für die sportliche Vereinsbewegung den radikalsten Einschnitt ihrer Geschichte. Vereine sind in ihrer demokratischen Verfassung, ihrer Verbandszugehörigkeit, ihrer Selbstorganisation, ihren Zielen, ihrer Meinungsfreiheit grundlegend infrage gestellt. Das erfahren zuerst die Arbeiterturn- und Sportvereine, die umgehend verboten werden – Vorstände werden verhaftet, viele misshandelt, Sportstätten und Geräte beschlagnahmt oder zerstört, wichtige Dokumente vernichtet. Das Verbot gilt auch für viele konfessionell geprägte und einige Werksportvereine, später die ghettoisierten jüdischen Vereine .
Dem totalitären Anspruch eines gewalttätigen Regimes sind die bürgerlichen Turnvereine wie auch die international orientierten Sportvereine unvorbereitet ausgesetzt. Ja sie scheinen es zunächst nicht einmal zu merken – am Tag der Machtergreifung finden wie geplant Pferderennen statt, am Tag der letzten Reichswahl im März besuchen zigtausende Fußballspiele.
Außer von Teilen der Arbeiterturn- und Sportbewegung erfolgt kein Widerstand aus den Verbänden, vielfach sind führende Funktionäre aktive Vorhut oder willige Unterstützer der neuen Machthaber. Die Deutsche Turnerschaft begrüßt ausdrücklich die NS-Regierung und fordert vorauseilend den Ausschluss jüdischer Mitglieder. Beim Turnfest 1933 vereinnahmt Hitler den volkstümlich-integrierenden Vereinsgründer Jahn für seine rassistische Ideologie – die Mehrzahl der Teilnehmer ist begeistert über die vermeintliche Hochachtung für ihren „Turnvater“, Anerkennung der sportlichen Aktivitäten als „Neuaufbau Großdeutschlands“ und größere finanzielle Förderung des Sports. 1936 „übersehen“ Sportvereine Hitlers Missbrauch Olympias. Manche bürgerlichen Vereine profitieren an der Zerschlagung der Arbeitersportvereine oder der Vertreibung ganzer Bevöl-kerungsgruppen.
Für das Vereinswesen werden vor allem zwei Maßnahmen der neuen Diktatur prägend: Die unmittelbare Gleichschaltung des Sports mit der staatlichen Politik und das Führerprinzip.
Gleichschaltung des Sports heißt schnelle zentralistische Zusammenfassung aller organisatorischen Aktivitäten der Vereine und Verbände im Deutschen (ab 1939 Nationalsozialistischen) Reichsbund für Leibesübungen. Es gibt den allein bestimmenden Reichssportführer, die zahlreichen Verbände werden in 15 Fachämter aufgeteilt. Der Jugendsport wird der Hitlerjugend unterstellt, die Geländeläufe, Gepäckmärsche und Handgranatenweitwurf praktiziert. Die Vereine verlieren die Jugend, die übrigen Mitglieder bleiben meist Sportart und traditioneller Gemeinschaft verbunden. Gleichschaltung zielt zuerst auf Einbindung der Verbandskader auf Reichsebene ab. Und öffentliche Unterstützung der NS-Propaganda durch örtliche Vereine.
Das Führerprinzip – ein nie genau geklärtes politisch-ideologisches Konzept – wird den Vereinen Mitte 1933 aufgezwungen. Jeder Verein muss einen Führer bestätigen, der selbst den Vorstand bestimmt und autonom entscheidet. Der Vorsitzende soll einer NS-Organisation angehören, ebenfalls die Mehrheit des Vorstandes. Vereinzelt gibt es Widerspruch oder Vorsitzende erneut gewählt, mitunter erklärt der Gewählte ausdrücklich, er sei weiter „Kamerad“. Öfter treten Vereinsführer und Wehrsportführer autoritär und ideologisch linientreu auf. Die Partei stellt an die Vereinsführer klare Anforderungen von oben, nicht immer werden sie befolgt. Insgesamt sind Turn- und Sportvereine keine aktiven Stätten des Widerstands. Man versucht sich mit den Bedingungen abzufinden, weiter dem lieb gewordenen Sport nachzugehen und scheinbar „normal“ Geselligkeit zu pflegen.
Im Laufe des Krieges müssen sie registrieren, dass viele Mitglieder fallen (bei einem Hamburger Großverein fast 500), ihre Sportstätten zerstört oder als Notunterkunft für Zwangsarbeiter, Obdachlose oder Verwundete beansprucht sind. Wichtige Erinnerungsstücke gehen verloren. Dennoch ist die Vereinssportbewegung kein unschuldiges Opfer des Nazi-Terrors, changiert zwischen Mittäter und Mitläufer. Und viele Mitglieder fühlen sich im Mai 1945 nicht befreit.
Man darf der Vereinsbewegung in der NS-Zeit zu Recht Verrat an den Idealen der Turnbewegung wie dem Olympischen Internationalismus vorhalten, mindestens historisch schwer nachvollziehbare politische Naivität. Die untereinander zerstrittenen Sportverbände haben anders als die Jahnschen Turner keine gemeinsame Idee von einem freiheitlich-demokratischen Staat. Politik ist Aufgabe der entstandenen Parteien, Vereine verstehen sich zunächst als lokale Vereinigungen zur freien Regelung gemeinsamer Interessen.
Insgesamt bleiben trotz Gleichschaltung und Führerprinzip wichtige Elemente der gelebten Vereinskultur erhalten – gleichberechtigtes Miteinander, brüderliches Engagement für andere und Identifizierung des Vereins als Heimat, Offenheit für neue Anforderungen und Selbstorganisation. Diese Qualitäten sorgen für den erstaunlich schnellen Aufbau der Vereinsstrukturen nach totaler Kapitulation des NS-Regimes, lindern Not und Elend für Heimkehrer und Flüchtlinge, geben Halt für Verzweifelte, bedeuten Kontakte zu ehemaligen Gegnern. Viele Vereine haben einen kleinen Teil zur Wiedergutmachung ihrer und der deutschen Schuld geleistet, mit dem Aufbau des traditionellen Vereinslebens Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens gestärkt. Das gilt bis heute.
Der deutsche Sport hat sich 1945 keineswegs überall befreit gesehen, hat noch viele Jahre Gedankengut und Personal der NS-Zeit verarbeiten müssen. Nach 70 Jahren Demokratie ist sich die Vereinssportbewegung bewusster denn je, wie sehr sie einen freiheitlichen und friedlichen Staat zu ihrer Entwicklung braucht, ihn ihrerseits aktiv mitgestalten muss. Gedenktage wie der 8. Mai sind Anlass dieses Selbstbewusstsein durch selbstkritische Rückschau zu schärfen.
Hinweise: Dieser Kommentar wurde vom DOSB zur Verfügung gestellt. Er spiegelt ausschließlich die Meinung des Autors wider.
Quelle: DOSB Presse