Über den Slums von Nairobi Laureus

Über den Slums von Nairobi

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Sie ste­hen im Kreis, die Arme über den Schul­tern ver­schränkt, die Köpfe ge­senkt. Blut­rot ist der Boden, auf dem sie ste­hen. Sie beten. Our Fa­ther who art in hea­ven… Elf klei­ne Freun­de, ge­trie­ben vom sel­ben Traum. Vor jedem Spiel beten sie das eng­li­sche Va­ter­un­ser. Hal­lo­wed be Thy name… SEIN Reich soll kom­men, SEIN Wille ge­sche­he, und viele Tore, viele Siege soll ER ihnen geben

Sie nen­nen sich “Young Kings”, zähe, ath­le­ti­sche, ent­schlos­se­ne Kids, die seit Jah­ren zu­sam­men spie­len. Gleich wer­den sie an­tre­ten gegen “Mcedo Bei­jing”, es ist das zwölf­te Spiel der Sai­son, acht haben sie be­reits ge­won­nen, sie sind Ta­bel­len­füh­rer der Mat­ha­re Zone, Al­ters­klas­se U 12. Heute ein Sieg, und die Chan­cen ste­hen gut, die Fi­nal­run­de zu er­rei­chen und, so Gott will, das End­spiel auch. Die “Young Kings” sind meis­tens dabei dabei, wenn es um den Titel geht.

Jos­phat Musa und Steve Ki­ma­ri sind ihre Bes­ten. Der klei­ne, quir­li­ge Jos­phat ver­teilt im Mit­tel­feld die Bälle. Der schma­le, ele­gan­te Steve häm­mert sie ins Tor; 25 Mal hat er schon ge­trof­fen in die­ser Sai­son. Jos­phat sagt: “Du mußt dis­zi­pli­niert sein, du mußt hart trai­nie­ren, immer folg­sam sein.” Steve meint: “Ich mag es zu ko­ope­rie­ren, wer zu­sam­men spielt, ist stark.” Jos­phat will ein­mal Profi wer­den bei Ar­se­nal Lon­don, sei­nem Lieb­lings­ver­ein. Steve möch­te Rechts­an­walt wer­den, “um an­de­ren hel­fen zu kön­nen”. Und dann blickt er hin­über zum Ort, den sie alle hin­ter sich las­sen wol­len, so oder so, und der ver­schwimmt in einem Dunst aus Hitze und Rauch.

Mat­ha­re in Nai­ro­bi, Kenia. Unten im Tal lie­gen die Slums, oben, auf einem Pla­teau lie­gen die Fuß­ball­plät­ze. Unten leben min­des­tens 400000 Men­schen in ma­ro­den Hüt­ten, schie­fen Ver­schlä­gen, zwi­schen Well­blech, Müll und Dreck, durch­zo­gen von Rinn­sa­len voll Schlamm, Schleim, Fä­ka­li­en. Unten ster­ben die Men­schen an Cho­le­ra, Thy­phus, Aids gras­siert. Unten hun­gern die Men­schen, wird ge­stoh­len, ge­tö­tet, wer­den Mäd­chen mit 14 schwan­ger, be­kämp­fen sich Ban­den der Ki­kuyu und Luo, die gröss­ten Stäm­me Ke­ni­as, be­täu­ben die Men­schen ihren Schmerz mit Chang’aa, einem Fusel aus Zu­cker­rohr und Mais, ver­setzt mit Me­tha­nol, der die Men­schen lang­sam kre­pie­ren läßt. Und so schau­en die Kids von Mat­ha­re sehn­süch­tig nach oben, zum Fuß­ball­platz. Unten das Elend, oben die Hoff­nung.

Im Au­gust 1987 war­tet der Ka­na­di­er Bob Munro in Mat­ha­re vor einer Kir­che auf seine Toch­ter, die dort Nach­hil­fe­un­ter­richt gibt. Ne­ben­an ki­cken ein paar Jungs. Munro bie­tet sich als Schieds­rich­ter an. Die Jungs sind be­geis­tert über den Zu­spruch. Munro ver­spricht wie­der­zu­kom­men. Mit um­ge­rech­net 500 US-Dol­lar ver­an­stal­tet er wenig spä­ter ein Fuß­ball­tur­nier für Kin­der. So be­ginnt die Ge­schich­te der Mat­ha­re Youth Sports As­so­cia­ti­on (MYSA), die heute 27000 Mit­glie­der hat, 1700 Teams in 100 Ligen in den Al­ters­klas­sen U 10, U 12, U 14, U 16 und über 16, dazu ein pro­fes­sio­nel­les Team, Mat­ha­re United, das zwei­mal den Po­kal­wett­be­werb und die Meis­ter­schaft Ke­ni­as ge­wann. „Wir nut­zen Fuß­ball“, sagt David Thiru, „um die Ju­gend zu mo­bi­li­sie­ren, um zu zei­gen, dass harte Ar­beit und so­zia­les En­ga­ge­ment einen Weg aus dem Getto er­mög­li­chen.“ Thiru sagt, MYSA ba­sie­re auf einem sim­plen Prin­zip: „Du tust etwas, MYSA tut etwas für dich; du tust nichts, tut MYSA nichts für dich.“

Man trifft Thiru in Koma­rock, nicht weit von Mat­ha­re. Hier be­fin­det sich hin­ter hohen Mau­ern und einem gelb-grün la­ckier­ten Ei­sen­tor MYSAs Haupt­quar­tier. Thiru hat 1987 an­ge­fan­gen im Team „Me­la­wa“, des­sen Ka­pi­tän er war, spä­ter war er Ka­pi­tän der ers­ten „MYSA All Stars“. Die Re­geln von da­mals, gel­ten immer noch. Es gibt nicht nur Punk­te für Siege in den MYSA-Li­gen, son­dern auch für Säu­be­rungs­ak­tio­nen im Slum, Auf­fors­tung, für frei­wil­li­ge Diens­te, etwa ein Team trai­nie­ren, als Schieds­rich­ter ein Spiel lei­ten, Kurse geben in Se­xu­al- und Ge­sund­heits­auf­klä­rung. Am Jah­res­en­de er­hal­ten die 500 Punkt­bes­ten einen „Lea­dership Award“, do­tiert mit 100 US-Dol­lar, die für schu­li­sche Zwe­cke be­nutzt wer­den müs­sen. „Ich war zwölf, als ich zu MSYA kam“, sagt Thiru, „ich habe früh ge­lernt, was so­zia­le Ver­ant­wor­tung be­deu­tet.“ Zwei­mal war MYSA für den Frie­dens­no­bel­preis no­mi­niert; 2000 war es das erste Pro­jekt, das die Lau­reus Sport for Good Foun­da­ti­on un­ter­stütz­te, die auch an einem nach dem Vor­bild von MYSA ge­stal­te­ten Pro­gramm im Sudan be­tei­ligt ist.

So­zia­le Ver­ant­wor­tung über­neh­men. An­füh­rer wer­den. Vor­bild sein. In Koma­rock spre­chen alle davon. Zum Bei­spiel John Ndi­ti­ru, ein Per­cus­sio­nist, der mit einem von Ke­ni­as be­rühm­tes­ten Mu­si­kern, Eric Wai­nai­na, spiel­te und in Nor­we­gen und den USA stu­diert hat. Warum hat er seine Kar­rie­re ein­ge­tauscht mit der Ver­an­stal­tung von Kon­zer­ten, Tanz- und Thea­ter­fes­ti­vals? „Ich bin ein Kind von MYSA, es sind meine Leute, es ist mein Land, wer soll ihnen hel­fen, wenn nicht ich? Wer das Leben an­de­rer ver­bes­sern will, muss so­li­da­risch sein.“ Maqula­te Onyango, die ver­ant­wort­lich ist für den Spiel­be­trieb der MYSA-Li­gen, war 13 Jahre Vol­un­tä­rin, hat als Schieds­rich­te­rin und Trai­ne­rin fun­giert. Sie sagt: „MYSA öff­net dir die Augen, es bringt dich als Mensch auf die nächs­te Stufe.“ Nur so, meint Eli­sha Abong’o, „nur mit Hin­ga­be kön­nen wir tun, was wir tun, du mußt Men­schen lie­ben, sonst kannst du es nicht.“

Abong’o, ein gros­ser Mann mit wei­cher Stim­me küm­mert sich um Kin­der, die in Ge­fäng­nis­sen oder Er­zie­hungs­hei­men lan­den. Er ver­sucht, sie vor Ge­richt vor Haft­stra­fen zu be­wah­ren und wie­der bei ihren Fa­mi­li­en un­ter­zu­brin­gen. Wie Rod­ney Atemo, 14, des­sen Vater tot ist, des­sen Mut­ter ihn ver­stos­sen hat, weil ihr zwei­ter Ehe­mann nur seine bio­lo­gi­schen Kin­der ak­zep­tier­te. Fast immer wer­den in Mat­ha­re die Frau­en un­ter­drückt, die Kin­der für die Not und Hoff­nungs­lo­sig­keit des Le­bens ver­ant­wort­lich ge­macht. Als die Gro­ß­mut­ter Rod­ney halb tot prü­gel­te, lieft er weg, lebte fünf Jahre auf der Stra­ße, lern­te in einer Kin­der­ban­de zu steh­len. Durch Abong’os Ver­mitt­lung kommt er in­zwi­schen nach Koma­rock, spielt jeden Sams­tag Fuß­ball, nennt sich „Roo­ney“. Wie Wayne Roo­ney, sein Idol. Rod­ney hat wenig Ta­lent, aber bei MYSA trifft er auf Gleich­alt­ri­ge, deren All­tag nicht ge­prägt ist von Dro­gen und Dieb­stahl, mit denen er plau­dern, al­bern sein kann, die ihm in der Bi­blio­thek lesen bei- und Bü­cher na­he­brin­gen. Abong’o: „MYSA gibt dir zu­al­ler­erst das Ge­fühl, dass du ir­gend­wo dazu ge­hörst.“

Zu­rück auf den Fuß­ball­plät­zen über den Slums. Ge­schrei, Tor­ju­bel, stau­big die Luft. Hin­ter einem der Tore steht Loise Wa­mai­ta, 22. Sie ist in Mat­ha­re auf­ge­wach­sen, litt unter Man­gel­er­näh­rung, Diarr­hö, Atem­stö­run­gen und Schlaf­lo­sig­keit, weil sie neben den kokeln­den Fäs­sern der Schnaps­bren­ner wohn­te. „Im Fern­se­hen zei­gen sie jun­gen Men­schen diese Sei­fen­opern“, sagt Wa­mai­ta, „in denen alle Geld haben, schö­ne Autos, schö­ne Klei­der, alles ist mög­lich.“ In der Rea­li­tät? „Ist nichts mög­lich.“ Wa­mai­ta hat kei­nen Job, ob­wohl sie einen der bes­ten Ab­schlüs­se ihrer Schul­klas­se hatte. Sie hat eine zwei­jäh­ri­ge Toch­ter, kei­nen Mann, lebt bei ihren El­tern, die in den Slums Brot ver­kau­fen. Nun ist sie Chair­wo­men der Ma­ta­re Zone, sorgt dafür, dass die Fuß­ball­plät­ze in Ord­nung ge­hal­ten wer­den, kon­trol­liert, ob alle in Tri­kots an­tre­ten, no­tiert die Spiel­ergeb­nis­se. Ne­ben­her lei­tet sie Säu­be­rungs­trupps in den Slums, spricht dabei mit den Kids über Ver­hü­tung, Ge­schlechts­krank­hei­ten und HIV. „Ich möch­te“, sagt Wa­mai­na, „dass ihnen er­spart bleibt, was mir pas­siert ist.“

Das Spiel der „Young Kings“ ist zu­en­de. Wa­mai­ta holt das Er­geb­nis ein. 3:0. Zwei Tore von Steve Ki­ma­ri, eines von Jos­phat Musa. Ihr Trai­ner lä­chelt. „Sie haben ge­kämpft, sie haben sich an meine An­wei­sun­gen ge­hal­ten“, sagt Adan Mo­ham­med, „sie wis­sen, dass sie der ruhm­rei­chen Ver­gan­gen­heit der ‚Young Kings“ ver­pflich­tet sind.“ Die „Young Kings“, so Steve und Jos­phat, waren immer Cham­pi­ons. Chege, China, Baba heis­sen ihre Hel­den, alle frü­her bei den „Young Kings“ aktiv, oder Akumu, der aus Mat­ha­re kommt und jetzt in der ers­ten ke­nia­ni­schen Liga spielt. Wie die wol­len sie wer­den. „MYSA ist ein Tritt­brett“, hatte Abong’o ge­sagt, „nie­mand kann ver­spre­chen, dass du ein gro­ßer Fuß­bal­ler wirst, aber was du bei MYSA lernst, nimmst du mit fürs Leben. Wenn du in das Elend von Mat­ha­re hin­ein ge­bo­ren wirst, ist das deine ein­zi­ge Chan­ce.“

 

Quelle: Laureus

(Hervorhebungen durch netzathleten.de)

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